Wer trifft die Priorisierungs-Entscheidungen in der Notfallsituation?

Antworten
Günter Heiden
Beiträge: 8
Registriert: 30. Apr 2020, 13:07

Wer trifft die Priorisierungs-Entscheidungen in der Notfallsituation?

Beitrag von Günter Heiden »

Entscheidungen über medizinische Behandlungen in der Regelsituation sollen nach modernem Verständnis durch die sogenannte „Partizipative Entscheidungsfindung“ (Shared decision making) zwischen Ärzt*innen und Patient*innen erfolgen. Wie aber soll man in einer Ausnahmesituation entscheiden, wenn es keine Vorab-Festlegungen, etwa in Form einer Patientenverfügung gibt? Im Transplantationsgesetz (TPG) beispielsweise sollen bei Organspenden die „nächsten Angehörigen“, dem (mutmaßlichen) Willen des Verstorbenen entsprechend entscheiden. Wer aber entscheidet in der Intensivmedizin unter zeitlichem Druck? Eine Einzelperson, die die Beatmungsgeräte verteilt? Ein festgelegtes Medizin-Team? Eine Ethik-Kommission?

In den Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften sollen Priorisierungs-Entscheidungen nach dem „Mehraugen-Prinzip“ getroffen werden. Dabei wird vorrangig an drei Personengruppen gedacht, wobei die aktualisierte Fassung der DIVI leichte Erweiterungen im Vergleich zur Ursprungsfassung vornimmt. Diese Erweiterungen sind im Nachstehenden kursiv gefasst. Es geht um die Beteiligung:

• „von möglichst zwei intensivmedizinisch erfahrenen Ärzten, einschließlich Primär- und Sekundärbehandler beteiligter Fachgebiete,
• von möglichst einem erfahrenen Vertreter der Pflegenden,
• ggf. von weiteren Fachvertretern (z.B. klinische Ethik).“

Die Entscheidungen sollen nach Vorstellung der Fachgesellschaften nach Möglichkeit „im Konsens“ getroffen werden und bei Dissens sollen die jeweiligen Kliniken „angemessene Vorgehensweisen“ festlegen. Die getroffenen Entscheidungen sollen dann „transparent gegenüber Patienten, Angehörigen“ kommuniziert werden.

Warum aber werden die direkt Betroffenen und ihre Angehörigen bei Entscheidungen nicht in das „Mehraugen-Prinzip“ einbezogen?

Außerdem stellt sich die Frage, was wirklich bei den Dissensen in den jeweiligen Kliniken geschieht und was unter „angemessen Vorgehensweisen“ zu verstehen ist: Geht es um Mehrheitsentscheidungen?

Gibt es also Menschen, die berechtigt sind, solche Priorisierungs-Entscheidungen in einer Notfallsituation zu treffen? Wenn ja, welche sind dies und wie viele sollten es sein? Nach welchen Verfahrensweisen werden diese Entscheidungen dann getroffen?
Günter Heiden
Beiträge: 8
Registriert: 30. Apr 2020, 13:07

Re: Wer trifft die Priorisierungs-Entscheidungen in der Notfallsituation?

Beitrag von Günter Heiden »

Vom Bundesverband "Haus der Krebs-Selbsthilfe" erhielten wir eine Stellungnahme "Corona-Krise und Krebserkrankungen" vom 8. April 2020. Darin hießt es unter anderem zum Thema "Triage":

„Sollten sich im weiteren Verlauf der Pandemie Entscheidungssituationen entwickeln, die eine Zuteilung von Ressourcen erfordern (Triage), erwarten wir eine interdisziplinäre Erarbeitung von Empfehlungen, die eine gleichberechtigte Versorgung vulnerabler Personengruppen, zu denen insbesondere onkologische Patient*innen zählen, gewährleistet. Wir befinden uns in einer Situation, die es so weltweit noch nicht gab, und es gibt somit keine Erfahrungswerte, wie politische Vorgaben und Entscheidungen letztlich langfristig effektiv sein werden. Von Evidenz sind wir aktuell noch entfernt. Dennoch ist es unabdingbar, Lösungsvorschläge – unter Einbeziehung von Patientenvertretenden – schnellstmöglich zu erarbeiten."
Peter-Max
Beiträge: 2
Registriert: 14. Mai 2020, 07:54

Re: Wer trifft die Priorisierungs-Entscheidungen in der Notfallsituation?

Beitrag von Peter-Max »

Herzlichen Dank für Ihre interessanten Beiträge.

Da eine Triage-Entscheidung im Pandemiefall größtenteils (jedenfalls als Patienten) auch "Nicht-Akademiker" betrifft,
verzeihen Sie mir, dass ich einen etwas - trotz der Komplexität der Sachlage - versuche einen allgemein-
verständlichen Beitrag in dieser Diskussion einzufügen, welcher auch vom "Durchschnittsbürger" verstanden
werden kann. Deshalb habe ich einen Artikel aus der "Frankfurter Rundschau" ("Wie ethisch ist die Triage in der Corona-Krise?") hier eingefügt (+). Diesem
kann ich insoweit folgen.

Falls Sie der nachfolgenden Beschreibung zustimmen, ergänzen aber auch kritisieren möchten, freue ich mich
über Ihre Antwort. Ich wäre aber sehr froh und Ihnen auch sehr dankbar, wenn Sie sich auf mein Niveau "herab-
begeben" könnten, so dass auch Nichtakademiker (wie ich) folgen können.

Ich finde, dass diese Diskussion es beileibe verdient hat, gerade auch den "Durchschnittsbürger" (mit Realschulabschluss, oder auch Hauptschulabschluss) mit ins Boot zu holen! Nun Auszüge aus dem Artikel:

Wie ethisch ist die Triage in der Corona-Krise?

"Ein anderes ethisches Schwergewicht argumentiert in entgegengesetzter Richtung: die kantische Deontologie. Nach dieser Pflichtenethik ist es kategorisch untersagt, einen Menschen vollständig zum Nutzen eines anderen zu instrumentalisieren. Natürlich dürfen wir andere Menschen für bezahlte Dienstleistungen nutzen, aber wir dürfen sie nicht versklaven oder – wie im Fall der Ex-post-Triage – für einen Dritten sterben lassen. Nach Kant ist jeder Mensch mit Willensfreiheit eine potenzielle Quelle des Guten und damit Würdeträger. Genau deshalb können menschliche Leben nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Sie haben eine Würde, keinen Preis. Alter, Krankheit und dergleichen spielen keine Rolle. Gleichwohl bleibt auch hier ein Restzweifel an der kategorischen Strenge. Was, wenn die gesamte Menschheit nur durch die Instrumentalisierung eines Einzelnen zu retten wäre? Welchen Wert hat ein Prinzip, von dem niemand profitiert?" (+)

"Natürlich ist das Grundrecht auf Leben, das höchste Gut "Leben" - zu priorisieren.
Wie und - ob überhaupt - können Menschen darüber entscheiden, ob das Leben des Einen erhaltenswerter ist, als das des Anderen?"
(Peter Ochsenbauer)

Triage bei der Corona-Behandlung: Müssen Ärzte um Leben und Tod entscheiden? (+)

Eine andere Größe in unserem Ringen um die angemessene Beurteilung der Triage ist die Vertragstheorie. Nach dieser Theorie treten Menschen nur dann in eine Rechtsgemeinschaft ein, wenn ihre elementarsten Bedürfnisse geschützt sind. Ein Souverän, der sich vorbehält, einige seiner Bürger für andere zu opfern, kann von diesen keine Rechtstreue erwarten.Wer also ein friedliches Zusammenleben will, der muss einige Grundrechte für sakrosankt erklären. Das Recht auf Leben gehört definitiv dazu. Schwäche dieser Herangehensweise ist ihre Reduktion auf die juristische Ebene. Wir wissen schließlich alle, dass es zahlreiche moralische Fragestellungen gibt, die nicht juristisch oder vertraglich geregelt werden können. (+)

Einschub: Definition (Ex-ante Triage und Ex-post Triage)

Die Triage bei Ex-ante-Konkurrenz bezeichnet eine Situation, bei der „die Zahl der unbesetzten Beatmungsplätze kleiner ist als die Zahl der Patienten, die ihrer akut bedürfen.“
Die Triage bei Ex-post-Konkurrenz beschreibt eine Situation, in der bereits alle „verfügbaren Beatmungsplätze belegt sind“, und weitere bedürftige Patienten nicht versorgt werden können. (+)

Die Triage in der Corona-Krise als philosophisches Dilemma

Der Utilitarismus unterstützt tendenziell beide Formen der Triage. Gleichwohl lassen sich auch aus utilitaristischer Sicht Einwände gegen die Ex-post-Triage formulieren. Dies ist genau dann der Fall, wenn eine entsprechende Regelung langfristig mehr Leiden als Nutzen erzeugen würde. Wenn beispielsweise das Bewusstsein, unter gewissen Umständen für andere geopfert werden zu dürfen, eine hinreichende Menge an Leid erzeugt, könnte auch ein Utilitarist die Ex-ante-Triage zurückweisen. Wenn die Regelung jedoch nur komatöse Patienten im Sterbeprozess betrifft, wäre dieser Effekt nicht zu befürchten. (+)

Background:

A week ago, Italy had so few cases of corona that it could give each stricken patient high-quality care.

Today, some hospitals are so overwhelmed that they simply cannot treat every patient. They are starting to do wartime triage.

Here’s the guidance for that.
— Yascha Mounk (@Yascha_Mounk) March 11, 2020 (+)

Aus Sicht der kantischen Deontologie ist der Kompromiss hoch problematisch. Allerdings lässt sich argumentieren, dass Kant zwar von der Würde des Menschen schrieb, aber Personenwürde meinte. Eine Person zeichnet sich durch Bewusstsein und Willensfreiheit aus. Sie ist Subjekt eines Lebens und Träger moralischer Verantwortung. Bei einem komatösen Patienten im Sterbeprozess sind diese Eigenschaften unwiederbringlich verloren. Das Adjektiv unwiederbringlich ist hierbei von besonderer Bedeutung. Schließlich zählt unsere Gesellschaft zahlreiche Mitglieder, die nach Kant noch nicht oder nicht in Gänze als Person gelten, aber dennoch unantastbar bleiben sollen. (+)

Wer darf leben, wer soll sterben? Das ethische Problem der Triage in der Corona-Krise

Die Zustimmung der Vertragstheorie ließe sich mit einem der berühmtesten Gedankenexperimente der Philosophiegeschichte umwerben: Der „veil of ignorance“ von John Rawls. Nehmen wir an, hinter einem solchen „Schleier der Unwissenheit“ würden sich Menschen versammeln, um die Regeln und Gesetze für eine Gesellschaft zu formulieren, in der sie am Folgetag erwachen werden. Dabei besitzen sie keine Informationen über ihre persönliche Zukunft in dieser Gesellschaft. Sie kennen weder ihr Geschlecht noch ihr Alter. Auch ökonomische Ausstattung, Begabungen oder Gesundheitszustand sind unbekannt. Nach Rawls werden Menschen unter diesen Bedingungen gerechte und faire Gesetze entwerfen, da alle an einem Höchstmaß an Objektivität interessiert sind. Wie aber würden Menschen hinter dem „veil of ignorance“ über die Möglichkeiten der Triage entscheiden? Der oben skizzierte Vorschlag erscheint zustimmungsfähig. Einerseits erhöht er die Wahrscheinlichkeit, im Fall einer Erkrankung mit Heilungschancen gerettet zu werden. Auf der anderen Seite droht kein bewusst erlebter Verlust, sollte das persönliche Los auf den komatösen Patienten im Sterbeprozess fallen. (+)

Als Resümee bleibt also die Forderung, bei extremem Mangel an Geräten komatöse Patienten, bei denen die Beatmung sterbebegleitend eingesetzt wird, vom Respirator zu trennen. Auf diese Weise entstünde zumindest eine geringe Entlastung für Medizinerinnen und Mediziner. Derzeit gilt nur, dass die medizinischen Entscheider im Rahmen des übergesetzlichen Notstandes mit juristischer Milde rechnen können. Selbst für Außenstehende ohne konkreten Entscheidungsdruck muss diese Lösung unbefriedigend bleiben. (+)

(+) = https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/c ... 68836.html

Herzlichen Dank für das Lesen dieses Beitrages und die besten Wünsche für Ihre Gesundheit !
Und Danke für Ihre Antworten!

Peter Ochsenbauer
Antworten